Dass man älter wird, das beobachtet man an anderen Menschen leichter als an sich selbst. Wie der Herr, der zum ersten Mal im Wartezimmer seines neuen Zahnarztes sitzt und auf der Urkunde an der Wand dessen vollständigen Namen liest.
Das müsste, denkt er, der schlanke und sportliche Junge sein, der vor gut 30 Jahren mit dir in derselben Schulklasse war. Als er dann im Behandlungszimmer den weißbärtigen Mann mit den vielen Falten im Gesicht begrüßt, denkt er: wohl doch nicht! Der ist viel zu alt, um dein Klassenkamerad gewesen zu sein. Aber er traut sich dann doch: “Haben Sie vielleicht vor Jahren das örtliche Gymnasium besucht?” “Ja, doch”, sagt der Arzt. “Und wann haben Sie Abi gemacht?” “1972, warum?” “Dann waren Sie in meiner Klasse”, sagt der Patient. Der Arzt schaut ihn an, als wolle er sich erinnern. Dann fragt er: “Und was haben Sie damals unterrichtet?”
So kann man sich täuschen in der Selbstwahrnehmung! Aber es stimmt ja: an anderen nehme ich die Runzeln und Falten viel eher wahr, die das Leben hinterlässt. Mit mir selbst bin ich meist nachsichtiger und milder. Ich muss an den Satz Jesu aus der Bergpredigt denken: “Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werden, denn mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.”
Dieses Wort Jesu bremst mein schnelles und voreiliges Urteil locker aus. Gib gut auf dich Acht, sagt es mir, dann bist du auch achtsamer mit den Anderen. Es geht ja nicht darum, auf die Runzeln und Falten des Nachbarn und Nächsten mit dem Finger zu deuten. Sondern zu sehen: das Leben hat seine Spuren hinterlassen – an Dir und an mir. Wäre es nicht schön, darüber etwas zu erfahren?
Erzähle mir, wie das Leben dich berührt hat. Gib mir ein bisschen Anteil an deinen guten und deinen schweren Erfahrungen. Was hat dir geholfen? Was nimmst du mit als Proviant für die Zukunft? Älter werden geht, wie vieles andere auch, besser zusammen. Darum möchte ich die alten Beziehungen pflegen. Sie sind kostbar, weil sie auf einem Schatz gemeinsamer Erfahrungen beruhen. Und was sich einmal bewährt hat, enthält die Kraft für neue Bewährungsproben. Eine solche erprobte Beziehung verträgt auch Runzeln und Falten. Sie nimmt die Spuren des Alters gelassen und heiter hin. Und wird, wie ein guter Wein, durch die Jahre immer besser.
Joachim Rönsch